Reha oder EM-Rente? Kein Entweder-Oder!
Rechtliche Möglichkeiten bei psychischer Erkrankung – Teil 2
Die 57-jährige Karin H. hatte rund 35 Jahre als Krankenschwester gearbeitet. Nach mehreren persönlichen Schicksalsschlägen und auch einem mental schweren Arbeitsleben war sie dann psychosomatisch erkrankt. In der Zeitspanne, in der sie Krankengeld bezog, wurde sie ambulant durch einen Facharzt für Psychiatrie betreut und unterzog sich bei einer Psychologin einer Verhaltenstherapie.
Zudem wurde Karin H. medikamentös therapiert und zwei Monate stationär in einer Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen behandelt. Nachdem ihr Krankengeld ausgelaufen war, erhielt sie Arbeitslosengeld. Das Arbeitsamt empfahl ihr eine Erwerbsminderungsrente (EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente) zu beantragen, da keine gesundheitliche Besserung zu erwarten wäre. Diese Empfehlung passte auch zu der Feststellung des medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDKkurz fürMedizinischer Dienst der Krankenversicherung), der eine Begutachtung veranlasst und festgestellt hatte, dass bei Karin H. nur noch ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden vorliegt.
Bevor Karin H. die EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente beantragte, stellte sie zuvor einen Antrag auf Bewilligung einer medizinischen psychosomatischen Reha-Maßnahme. Die Rentenversicherung lehnte diesen mit dem Argument ab, dass ambulante Behandlungen ausreichend wären. Karin H. legte hiergegen erfolglos Widerspruch ein.
Lange Verfahrensdauer
Eines der großen praktischen Probleme für die Versicherten in diesen Fällen ist die viele Zeit, die aufgrund der langen Verfahrensdauer, verloren geht. Nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes verbleibt oftmals nur die Möglichkeit, Bürgergeld zu beantragen oder vom Einkommen des Partners zu leben. Finanziell schwierig ist es insbesondere für Erkrankte, deren Ehepartner relativ wenig Einkommen, aber dennoch ein paar Euro zu viel hat, um Bürgergeld beanspruchen zu können.
Für Karin H. stellte sich nach dem Widerspruchsbescheid – neben den drohenden finanziellen Einschnitten – noch eine Frage: Sollte sie gegen die Ablehnung der Reha-Maßnahme in ein jahrelanges sozialrechtliches Klageverfahren gehen oder alternativ bereits jetzt die EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente beantragen? Grundsätzlich schließt, nach Auffassung der Behörden und von Gerichten, das eine das andere aus. Ein Versicherter ist entweder in der Lage, rehabilitiert zu werden oder so stark erkrankt, dass nur noch eine EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente infrage kommt. Woher der Erkrankte aber wissen soll, was richtig ist (insbesondere bei Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen), bleibt offen.
Da niemand in die Zukunft schauen kann und weiß, ob und wie sich sein Gesundheitszustand noch einmal bessern wird, ist jedem Erkrankten zu empfehlen, zum einen nach jedem möglichen medizinischen Strohhalm zu greifen, aber eben auch, seine finanzielle Situation im Auge zu behalten, da sonst der Druck im Kopf noch größer werden kann.
Sozialrechtlich gesprochen heißt das: Bleiben Sie an der Reha-Maßnahme dran und beantragen Sie dennoch zeitnah die EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente.
Auch Karin H. hat sich für den vorgeschlagenen Weg entschieden. Sie legte gegen den ablehnenden Reha-Antrag Klage ein und beantragte parallel die EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente. Auch die beantragte EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente wurde abgelehnt, weil ein von der Rentenversicherung beauftragtes psychiatrisches Gutachten zu dem Ergebnis kam, dass Karin H. noch mindestens sechs Stunden lang leichte Tätigkeiten ausüben könnte.
Das Problem: Auf der einen Seite („pro“ Erwerbsunfähigkeit) stehen die jahrelange Arbeitsunfähigkeit, die Auffassungen der eigenen Ärzte, das Gutachten des MDKkurz fürMedizinischer Dienst der Krankenversicherung und auch die subjektive Auffassung der Versicherten selbst; auf der anderen Seite („contra“ Erwerbsunfähigkeit) steht ein einziges von der Rentenversicherung eingeholtes Gutachten.
Karin H. ging gegen den ablehnenden Rentenbescheid vor. Kurz nachdem die zweite Klage gerade eingereicht war, meldete sich die Rentenversicherung im Reha-Verfahren und war überraschend bereit, der Versicherten doch eine Reha-Maßnahme zu bewilligen. Karin H. absolvierte die Rehabilitation. Im Reha-Entlassungsbericht ist zu lesen, dass sie weder ihre Tätigkeit als Krankenschwester über sechs Stunden ausüben kann noch eine Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von über sechs Stunden aufzeigt. Ungeachtet dieser eindeutigen Leistungseinschätzung lehnte die Rentenversicherung die Gewährung einer EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente weiterhin ab. Die Begründung zur Leistungseinschätzung der Klinik wäre nicht nachvollziehbar, so der Rententräger.
Karin H. hielt an dem Klageverfahren fest. Zwei Jahre später wurde ihr vom Sozialgericht eine EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente rückwirkend ab Antragstellung zuerkannt.
Vorher beraten lassen
Es gibt viele verschiedene Konstellationen in Rentenverfahren. Sollten Sie nach jahrelanger psychischer Erkrankung zu der Erkenntnis gelangen, einen EM-Renantrag stellen zu wollen, sollten Sie einige praktische Tipps beachten.
Therapie vor Rehabilitation, Rehabilitation vor Rente – halten Sie diese Reihenfolge bitte ein. Die Kläger sind in allen Rentenverfahren darlegungs- und beweispflichtig, ob sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch sechs Stunden und mehr tätig sein können. Wer vor dem Rentenantrag weder therapiert noch rehabilitiert wurde, wird mit seinem Rentenantrag grundsätzlich keinen Erfolg haben.
Lassen Sie sich rechtzeitig und möglichst noch vor Rentenantragstellung beim VdK beraten, ob der auf EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente gerichtete Antrag für Sie die einzige Möglichkeit darstellt. Umso früher man aus dem Erwerbsleben ausscheidet, desto mehr wirkt sich dies womöglich finanziell nachteilig auf die Altersrente aus. Vielleicht gibt es in Ihrem Fall noch weitere Reha-Möglichkeiten oder eventuell auch andere Rentenformen. Bei der sozialrechtlichen Beratung sollten auch die wirtschaftlichen Aspekte Berücksichtigung finden.
Arbeitssuchend melden
Auch wenn Sie ausgesteuert sind, das heißt ihre Sozialleistungen bei der Krankenkasse und dem Arbeitsamt ausgelaufen sind, melden Sie sich nachweislich regelmäßig beim Arbeitsamt arbeitssuchend. (Eine Ausnahme gilt für Versicherte, die im Anschluss Bürgergeld erhalten.) Sobald man bei keinem Sozialversicherungsträger mehr geführt wird, endet nach einer gewissen Zeit die sogenannte versicherungsrechtliche Zeit. Allein hierdurch könnten Sie sämtliche Ansprüche gegenüber den Rententrägern verlieren. Melden Sie dem Arbeitsamt, auch wenn Sie kein Geld mehr von dort beziehen, dass Sie ihre Arbeitskraft im Rahmen ihres Restleistungsvermögens zur Verfügung stellen.
Schließen Sie vor dem Rentenantrag eine Rechtschutzversicherung für sozialrechtliche Verfahren ab. Wenn sie sich später im Klageverfahren befinden, haben sie mit einer Versicherung die Möglichkeit, selbst einen Gutachter zu benennen. Sie sind damit nicht auf die vom Gericht beauftragten Sachverständigen angewiesen. Die meisten Versicherungen übernehmen grundsätzlich die Kosten für Gutachten. Holen Sie sich verschiedene Angebote ein.
Serie "Rechtliche Möglichkeiten bei psychischer Erkrankung"
Die Serie „Rechtliche Möglichkeiten bei psychischer Erkrankung“ umfasst folgende Artikel:
Teil 1: Was passiert, wenn alles zu viel wird (siehe VdK-Zeitung Oktober 2024)
Teil 2: Reha oder EM-Rentekurz fürErwerbsminderungsrente? Kein Entweder-Oder! (siehe VdK-Zeitung November 2024)
Teil 3: Die Altersrente für schwerbehinderte Menschen (siehe VdK-Zeitung Dezember 2024)